Detektivarbeit im Watt
18. Juni 2019, von Stephanie Janssen
Foto: UHH-CEN-Y.Milker
Die Salzmarschen entlang der deutschen Nordseeküste sind eine ganz eigene Welt. Diese „salzigen Wiesen“ bilden eine wichtige Übergangszone zwischen Meer und Festland und schützen so das Hinterland vor schweren Überflutungen. Doch was passiert, wenn der Meeresspiegel ansteigt? Doktorandin Dorothea Bunzel entschlüsselt mit Hilfe von Sedimentbohrkernen die Vergangenheit der Marschen und deren Fähigkeit zur Anpassung.
Frau Bunzel, Sie haben Bohrkerne in den Salzmarschen der Tümlauer Bucht nahe Westerhever gezogen. Wie kann ich mir das vorstellen?
Ganz schön schwierig, denn die Gebiete dort stehen seit 1985 unter Naturschutz und gelten seit 2009 als UNESCO Weltnaturerbe. Das bedeutet für die Arbeit im Gelände zuallererst viele Auflagen. Wir dürfen die Wiesen zum Beispiel nur im Herbst und Frühjahr betreten und nur bei Niedrigwasser, um Wild- und Zugvögel nicht zu stören.
An Ort und Stelle haben wir den Boden ausgehoben und eine senkrechte Fläche freigelegt, etwa 1,20 Meter tief. Anschließend drückten wir lange U-Profil-Schienen von vorn senkrecht in die freigelegte Wand. Um die Schiene samt Sediment vorsichtig aus der Fläche herauszulösen, zogen wir eine Angelschnur von hinten an der offenen Seite des U-Profils entlang. Mit dieser Methode vermeiden wir, dass wir die Sedimentschichten mechanisch zusammendrücken und dadurch das Ergebnis verfälschen wie es bei herkömmlichen Bohr-Methoden schnell passiert. Allerdings müssen wir uns bei der Arbeit auch immer beeilen, denn mit steigender Flut läuft das ausgehobene Loch nach und nach mit Wasser voll.
Wozu benötigen Sie den Bohrkern?
Ein Bohrkern liefert uns mit seiner Abfolge von Sedimenten eine Art Zeitstrahl. In einem Meter Tiefe sind die Sedimente in der Tümlauer Bucht etwa 100 Jahre alt, nach oben hin werden sie immer jünger. Wir haben den Bohrkern an einer Stelle gezogen, die in den letzten Jahrzehnten immer oberhalb der Gezeitenzone lag. Die Marsch wird dort also nur noch bei Sturmfluten überspült. Dann lagern sich Sedimente ab und sie wächst langsam weiter auf. Dadurch bildet die Marsch eine wichtige Pufferzone vor dem Deich, die bei Sturmfluten Wellen abbremsen kann.
Wenn aber im Zuge des Klimawandels der Meeresspiegel steigt, werden entsprechend die alljährlichen Sturmfluten auch hier deutlich höher auflaufen, so die Prognosen. Muss also der Deich erhöht werden? Wir brauchen Daten über die vergangenen Sturmfluten, um zu vergleichen und können damit auch berechnen, was in Zukunft passieren wird.
Was können Sie denn aus Sand und Matsch herauslesen?
Zunächst schaue ich, woraus ein bestimmte Schicht Sediment besteht und was mir das über das Klima um Zeitpunkt der Ablagerung verrät. Dazu nutze ich winzige einzellige Lebewesen, die sich überall im Sediment befinden. Dies sind die so genannten Foraminiferen, die ihr Gehäuse aus Kalk oder miteinander verklebten Sandkörnern aufbauen. So können sie als Fossil die Zeit überdauern.
Verschiedene Foraminiferen-Arten sind nämlich an ganz unterschiedliche marine Lebensräume angepasst. Manche mögen einen hohen Salzgehalt im Wasser, andere halten es gut in der wechselhaften Gezeitenzone aus, und wiederum andere bevorzugen eine fast trockene Umgebung. Je nachdem welche Arten ich finde, kann ich also zum Beispiel sagen, diese Sedimentschicht kann sich nur durch eine Sturmflut abgelagert haben, da die enthaltenden Arten sonst eigentlich nur im tieferen Wasser leben. So analysiere ich Stück für Stück jeden Zentimeter eines Bohrkerns.
Und woher wissen Sie dann, wann die Ereignisse stattgefunden haben?
Das ist knifflig. Gerade weil im Gezeitenbereich viel passiert, lagern sich die Schichten leider nicht gleichmäßig ab und die Zeitabschnitte können ganz unterschiedlich dick sein. Da musste ich viele Monate Detektivarbeit leisten. Zum Beispiel lässt sich im Labor feststellen, wie viel Cäsium in den Proben ist. Da Cäsium normalerweise nicht natürlich vorkommt, weiß ich, dass für einen hohen Anteil in meinen Proben nur die nuklearen Atomtests von 1962/63 oder die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 in Frage kommen. Finde ich die hohen Konzentrationen gleich zweimal in meinem Kern, sind das wichtige Zeitmarken für mich. Auch der Quecksilbergehalt liefert gute Anhaltspunkte: Um den Zweiten Weltkrieg war er durch die Nutzung als Sprengzünder in Bomben hoch, dann in den 1960er und -70er Jahren wieder durch die Industrialisierung. So kombinierte ich verschiedene Methoden, um die Zeitabschnitte nach und nach einzugrenzen.
Wie wird es also den Salzmarschen im Klimawandel ergehen?
Der Anstieg des Meeresspiegels wird für die Region auf 2,4 Millimeter pro Jahr berechnet. Die Marschen liegen dort zurzeit etwa 50 Zentimeter über der Gezeitenzone. Unsere Berechnungen zeigen, dass sie in den letzten Jahren um durchschnittlich elf Millimeter pro Jahr aufgewachsen sind. Dies reicht aus, um mit dem erwarteten Meeresspiegelanstieg mitzuhalten.
Der Beitrag erschien zuerst in den Tageszeitungen des SH:Z Verlags (11. Juni 2019)
Fachartikel
Müller-Navarra K, Milker Y, Bunzel D, Lindhorst S,Friedrich J, Arz H, Schmiedl G (2019): Evolution of a salt marsh in the southeastern North Sea region – Anthropogenic and natural forcing; Estuarine, Coastal and Shelf Science, 218 (p 268-277)
Kontakt: Dorothea Bunzel, Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit, Universität Hamburg, dorothea.bunzel"AT"uni-hamburg.de