Der Emissionshandel der EU braucht einen neuen Autopiloten – ein ReformvorschlagMehr Klimaschutz erhöht Emissionen: Paradoxe Effekte durch die Marktstabilitätsreserve
30. März 2021, von Prof. Dr. Grischa Perino
Foto: a.johnson-unsplash
Das Europäische System des Emissionshandels (EU-EHS) ist das Rückgrat der EU-Klimapolitik. Es legt eine verbindliche Obergrenze für die Emissionen von großen stationären Emittenten wie Kraftwerken sowie Flügen innerhalb der EU fest. Nach etwa einem Jahrzehnt niedriger Preise wurden 2018 durch eine Reform ehrgeizigere Ziele festgelegt und das Design verändert. Dadurch wurde das Vertrauen in den Markt wiederhergestellt. Die Preise sind von fünf Euro pro Tonne im Jahr 2017 auf 40 Euro Anfang 2021 gestiegen. Das ist ein großer Erfolg.
Vor dieser Reform war die Obergrenze für Emissionen fix. Zusätzliche klimapolitische Maßnahmen senkten daher nur den Preis der Zertifikate, nicht aber die Gesamtemissionen. Jetzt sind die Gesamtemissionen aufgrund der Einführung der Marktstabilitätsreserve (MSR) nicht mehr fix. Sie reagieren auf das Marktergebnis.
Die Marktstabilitätsreserve funktioniert dabei wie ein Autopilot. Sie soll den Markt stabilisieren, indem sie das Angebot an Zertifikaten reduziert, wenn diese reichlich vorhanden sind, und es erhöht, wenn sie knapp werden. Die MSR passt die Emissionsobergrenze an die Zahl der Zertifikate an, die Firmen für die zukünftige Nutzung aufbewahren, also ansparen. Je mehr Zertifikate die Unternehmen auf das nächste Jahr übertragen, desto geringer ist die Anzahl der in der Zukunft zur Verfügung stehenden Zertifikate – und umgekehrt.
Der Plan, Kohlekraftwerke in zehn Jahren abzuschalten, erhöht die Gesamtemissionen
Die Hoffnung war, dass die automatische Anpassung der Obergrenze, als Reaktion auf klimapolitische Maßnahmen, die Gesamtemissionen reduzieren würde. Solche Maßnahmen sind zum Beispiel Förderprogramme für erneuerbare Energien, Maßnahmen zur Energieeffizienz oder der Ausstieg aus der Kohleverbrennung. Sie zielen auf die gleichen Industrien ab wie der EU-Emissionshandel. Wenn Firmen mit Hilfe solcher Maßnahmen also heute weniger emittieren, sparen sie auch mehr Zertifikate ein und übertragen sie auf das nächste Jahr. Die Marktstabilitätsreserve reduziert dann wiederum die Anzahl der neu ausgegebenen Zertifikate. So weit, so gut.
Leider hat das Design der Marktstabilitätsreserve einen fundamentalen Fehler. Die Anzahl der angesparten Zertifikate ist ein gutes Maß dafür, was in der Vergangenheit passiert ist. Sie tendiert jedoch dazu, in Bezug auf die Zukunft systematisch daneben zu liegen.
Die MSR reagiert nämlich auf erwartete zukünftige Veränderungen des Marktes genau falsch. Ein Beispiel: Ein großer EU-Staat kündigt an, seine Kohlekraftwerke über die nächsten ein oder zwei Jahrzehnte auslaufen zu lassen. Das bedeutet, dass es in den kommenden Jahren insgesamt weniger Anlagen geben wird, die um die Zertifikate konkurrieren. Der Preis für die Zertifikate sinkt. Folglich werden die umweltverschmutzenden Unternehmen heute weniger Zertifikate für die Zukunft aufbewahren. Sie emittieren mehr. Die Marktstabilitätsreserve reagiert darauf, indem sie die Obergrenze der Emissionen im Vergleich zu einer Situation ohne den Kohleausstieg erhöht. Daher hat die Ankündigung, ein Kohlekraftwerk in zehn Jahren abzuschalten, den paradoxen Effekt, die Gesamtemissionen zu erhöhen.
Heutiger Emissionshandel destabilisiert den Markt
Das ist eindeutig keine wünschenswerte Eigenschaft eines klimapolitischen Instruments. Zusätzlich destabilisiert die MSR den Zertifikatenmarkt. Ein Kohleausstieg reduziert die Nachfrage nach Zertifikaten und löst einen Preisverfall aus. Ein stabilisierender Eingriff würde jetzt das Angebot reduzieren und damit den Preiseffekt dämpfen. Die Marktstabilitätsreserve könnte jedoch genau das Gegenteil bewirken. Indem sie das Angebot erhöht, vergrößert sie das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Markt und verstärkt den Preisverfall.
Die heutige Marktstabilitätsreserve steuert den Emissionshandel gut, was vergangene Ereignisse betrifft. Sie macht ihre Arbeit jedoch schlecht bei Ereignissen in der Zukunft, von denen wir bereits wissen. Der Autopilot des EU-EHS hat also ein gutes Bild davon, woher er kam und wo er sich befindet. Aber die Karte der vor ihm liegenden Strecke ist verzerrt. Er braucht dringend ein Software-Update.
Der Grund für die Fehlfunktion: Die Anzahl der Zertifikate, die von Firmen für die Zukunft angespart werden, ist eine unzuverlässige Maßeinheit für erwartete zukünftige Änderungen des Marktes. Es gibt jedoch eine Maßeinheit, die nicht unter diesem Problem leidet, leicht verfügbar ist und in Hunderttausenden von anderen Märkten auf Herz und Nieren geprüft wurde. Das ist der Preis der Ware. In praktisch jedem anderen Markt reagiert die angebotene Menge auf Preisänderungen. Steigt der Preis, sind Firmen bereit, mehr zu produzieren, sinkt er, produzieren sie weniger. Dieser Prozess stabilisiert Märkte.
Zusätzlicher Klimaschutz geht nach hinten los
Die Ziele der MSR – die Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage zu reduzieren, Synergien mit anderen klimapolitischen Maßnahmen zu schaffen und Investitionsanreize in kohlenstoffarme Technologien zu schaffen – ließen sich viel zuverlässiger erreichen. Sie müsste auf Änderungen des Zertifikatspreises und nicht auf Änderungen der Anzahl der aufbewahrten Zertifikate reagieren.
Würde man die aktuelle Marktstabilitätsreserve, deren Steuerung auf der Anzahl der von Firmen angesparten Zertifikate basiert, durch eine MSR ersetzen, deren Aktivität auf den Preis der Zertifikate bezogen ist, erhielte man das Software-Update, das den Autopiloten des EU-EHS wieder verkehrstauglich machen würde. Und das brauchen wir für eine sichere Reise in eine kohlenstoffneutrale Zukunft.
Bisher wurde eine solche preisbasierte Regulierung im EU-EHS nie ernsthaft in Erwägung gezogen, wohl deshalb, weil befürchtet wird, dass die Entscheidung eine Einstimmigkeit der Mitglieder erfordert. Sowohl ökonomisch als auch rechtlich gibt es jedoch entscheidende Unterschiede zwischen einer Steuer, die einen Preis festlegt, und einer preisbasierten Anpassung der Obergrenze, die zur Stabilisierung eines Marktes eingesetzt wird.
Das derzeitige Design der Marktstabilitätsreserve ist grundlegend fehlerhaft. Sie verwendet einen verzerrten Indikator für Veränderungen der Marktbedingungen. Dies birgt die Gefahr, dass die Marktstabilität untergraben wird und zusätzliche Klimaschutzbemühungen der Länder nach hinten losgehen. Die Lösung ist, das derzeitige Design durch eines zu ersetzen, das die Anzahl der ausgegebenen Zertifikate auf der Grundlage des Preises der Zertifikate anpasst. So funktionieren alle anderen Märkte auch. Es ist genauso wenig eine fiskalische Maßnahme wie das derzeitige Design.
In diesem Sommer 2021 steht die MSR zur turnusmäßigen Überprüfung an. Die Zeit für das Update ihres Autopiloten ist gekommen.
Videos, Publikation
Policy Brief:
Perino G, Pahle M, Pause F, Quemin S, Scheuing H, Willner M (2021): EU ETS stability mechanism needs new design; Policy Brief CEN
Video-Serie:
Auf Englisch finden Sie hier drei Kurzclips, in denen Grischa Perino die Funktion und die Tücken des aktuellen Emissionshandels erklärt.
Online Diskussion am 07. April 2021, 13 Uhr:
Reform of the EU ETS: does the Market Stability Reserve need a new design? Es diskutieren Simone Borghesi (Director of FSR Climate, European University Institute), Grischa Perino (Professor, University of Hamburg, CEN), Jos Delbeke (EIB Chair on International Carbon Markets, School of Transnational Governance, European University Institute)
Hosted by the Florence School of Regulation -> Eine Aufzeichnung der Diskussion finden Sie hier
Der Policy Brief ist im Rahmen des Kopernikus-Projekts Ariadne des Bundesministeriums für Bildung und Forschung entstanden. Die Forschung trägt zugleich zum Exzellenzcluster CLICCS ‘Climate, Climate Change, and Society’ der DFG an der Universität Hamburg bei.