Hamburger „Agenten“ im Dienst der KlimaforschungMit Agentenbasierter Modellierung simulieren Wissenschaftler menschliches Verhalten.
27. Juni 2018, von Prof. Dr. Jürgen Scheffran, CEN
Foto: Pexels/Pixabay CCO
Meine Agenten tragen keine schwarzen Sonnenbrillen, und nur einige von ihnen fahren Auto. Vor allem Bob: Wenn er irgendwohin muss, nimmt er den Wagen. Alfred radelt dagegen durch die Stadt, solange die Sonne scheint, während Earl den öffentlichen Nahverkehr nutzt.
Tag für Tag fahren Bob, Alfred und Earl zur Arbeit im Stadtteil Hoheluft, bringen ihre Kinder zur Kita oder kaufen ein. Doch sie existieren nicht wirklich. Sie sind „Agenten“, die sich in einem Computermodell durch ein virtuelles Hamburg bewegen. Mit einem solchen Modell untersuche ich in einem Forscherteam, wie typische Lebensumstände und Einstellungen von Agenten etwa die Wahl der Verkehrsmittel beeinflussen. So hat Bob wenig Zeit, Earl wenig Geld, und Alfred ist umweltbewusst. Zusätzlich verändern Faktoren wie das Wetter, Sprit- oder Buspreise ihre Entscheidungen.
Mit Hilfe des Modells können wir auch abschätzen, wie stark die Agenten durch „Umweltstressoren“ beeinträchtigt werden, also durch potentiell gesundheitsschädliche Umweltfaktoren wie Hitze, Lärm, Luftverschmutzung oder die Folgen des Klimawandels. Solche Stressoren wirken in Städten mit einer hohen Dichte von Menschen, Gebäuden oder Verkehr besonders stark: Allein die schlechte Luft verursacht weltweit schätzungsweise zwei Millionen Todesfälle pro Jahr. Weil Gebäude Wärme speichern, führen extreme Hitzewellen — die künftig wahrscheinlich häufiger werden — in vielen Städten zu noch höheren Temperaturen als im Umland.
Weltweit leben bereits mehr als die Hälfte aller Menschen in Städten, mit steigender Tendenz. Für Stadtplaner und Politiker ist es wichtig, diese lebenswert und gesund zu gestalten. Dazu tragen die Erkenntnisse bei, die wir durch Agentenbasiertes Modellieren gewinnen. Am Computer können wir ausprobieren, wie sich lästige Baustellen, steigende Kosten im öffentlichen Nahverkehr oder zusätzliche Radwege auf die Entscheidungen Einzelner auswirken – und was dies für die Gesundheit der Individuen und für die Stadt als Ganzes bedeutet.
Die Methode wurde durch das Aufkommen von Computern möglich. Für meine 1989 abgeschlossene Doktorarbeit habe ich sie erstmals benutzt, um mit einem selbst programmierten Modell die Folgen unterschiedlicher Handlungsoptionen im Ost-West-Konflikt zu simulieren. Zwischen den beiden möglichen Szenarien der Aufrüstung und Abrüstung zeigte mein Modell einen chaotischen Übergang als Folge wachsenden Vertrauens zwischen den Supermächten. Wenige Wochen nach der Simulation endete der Kalte Krieg mit dem Zerfall des Ostblocks. Dass eine Modellanalyse so schnell von der Wirklichkeit überholt werden könnte, kam auch für mich überraschend.
Heute ist Agentenbasierte Modellierung aus der Forschung nicht mehr wegzudenken. Wenn wir verstehen wollen, wie sich eine Gruppe in einer bestimmten Umgebung verhält, liefert die Methode wertvolle Einsichten. Sie eignet sich auch für die Erforschung der Auswirkungen städtischer Umweltstressoren - das hat der Test mit den typisierten Agenten Bob, Alfred und Earl gezeigt. Die bisher gewonnenen Ergebnisse schaffen die Voraussetzung für eine Erweiterung des Modells mit Daten realen Verhaltens. Damit lassen sich beispielsweise die Folgen von Wetterextremen simulieren, um zu prüfen, ob Fluchtwege und Versorgungsrouten in der Stadt im Krisenfall funktionieren. Möglich wäre auch, die Methode auf weitere Ballungsräume zu übertragen – denn Städte müssen sich weltweit an den Klimawandel anpassen.
Dieser Artikel erschien im Juni 2018 als Gastbeitrag im Hamburger Abendblatt.
Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie und Mitglied des Centrums für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) an der Universität Hamburg. Er leitet die Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) und präsentiert gemeinsame Modellergebnisse aus dem URBMOD-Projekt.
Zur kompletten Abendblatt-Serie.
Literatur:
Liang Emlyn Yang, Peter Hoffmann, Jürgen Scheffran, Sven Rühe, Jana Fischereit, Ingenuin Gasser (2018) An Agent-Based Modeling Framework for Simulating Human Exposure to Environmental Stresses in Urban Areas. Urban Science 2, 36. Online lesen.
Todd BenDor und Jürgen Scheffran: "Agent-based Modeling of Environmental Conflict and Cooperation" erscheint im September 2018 bei Taylor & Francis.