Lebenswert und klimaangepasst: Stadtgrün für alle
8. Juni 2022, von Tetiana Dovbishchuk
Foto: UHH/ Dovbishchuk
In Deutschland leben rund 77 Prozent der Bevölkerung in Städten. Hier wird gebaut, geheizt und Abfall produziert. Städte sind zudem besonders von den Folgen des Klimawandels betroffen – vor allem durch Hitze, extreme Niederschläge und Überschwemmungen. Obwohl zahlreiche Menschen in die Ballungsräume ziehen, entscheiden sich umgekehrt auch viele für einen Umzug ins Grüne. So dehnen die Siedlungen sich aus. Naturräume, Äcker und Wiesen müssen weichen. Wie könnten Städte also dichter besiedelt und gleichzeitig lebenswert und klimaangepasst werden?
Doch was macht einen Wohnort überhaupt lebenswert? Ist fehlende Natur der ausschlaggebende Grund für einen Umzug? Diesen Fragen bin ich zusammen mit meiner Kollegin Stefanie Kley nachgegangen. Im Rahmen unserer Forschung am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) der Universität Hamburg haben wir in Hamburg und Köln eine Umfrage durchgeführt. Mehr als 1800 Personen im Alter zwischen 18 und 96 Jahren standen uns Rede und Antwort.
In den Interviews ermittelten wir, wieviel Natur die Befragten in der direkten Umgebung ihrer Wohnung haben. Kann durch das Fenster ins Grüne geblickt werden? Gibt es einen Balkon, eine Terrasse, einen Innenhof oder Garten? Sind Parks oder andere Grünflächen in der Nähe? Weiter erkundigten wir uns, ob für die nächsten zwölf Monate konkrete Umzugspläne bestehen. Außerdem fragten wir besondere Ereignisse ab – zum Beispiel die Geburt von Kindern, das Zusammenziehen von Lebenspaaren oder den Kauf von Wohneigentum. Besonders wenn solche Ereignisse zusammenfallen, ist es für viele reizvoll ins Grüne zu ziehen. Abschließend wollten wir wissen, wie zufrieden die Menschen allgemein mit ihrem Leben sind. Ob sie sich gesund, mit ihrer Nachbarschaft verbunden und finanziell abgesichert fühlen.
Mit statistischen Analysen werteten wir die Antworten aus. So bekamen wir ein Bild, welchen Anteil ein grünes Wohnumfeld an der Lebenszufriedenheit hat. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Natur für alle Altersgruppen wichtig ist. Wohnraum ohne Balkon oder Garten vermindert die Lebenszufriedenheit direkt. Haben die Menschen kein Grün vor den Fenstern, denken sie häufiger darüber nach, umzuziehen. Unsere Analyse zeigt, dass knapp 23 Prozent der Befragten überlegen, den Wohnstandort zu wechseln. Darunter sind Familien mit Kindern und ohne Garten überproportional vertreten.
Grün in der Stadt hat also einen enormen Stellenwert. Für uns ist der Wunsch nach Grünflächen eng mit der Klimaanpassung verbunden. Denn eine natürliche, grüne Umgebung puffert Hitze ab, indem sie die Luft durch Beschattung und Feuchtigkeit kühlt. Nicht versiegelte Flächen nehmen Niederschläge wie ein Schwamm auf und mildern so Überschwemmungen. Zudem sind Grünflächen oft Orte der Ruhe. Bäume dienen als natürlicher Lärmschutz.
Viele Städterinnen und Städter wollen eine weitere Bebauung zulasten von Grün und Natur an ihrem Wohnort nicht länger in Kauf nehmen. Die Nachfrage nach Wohnungen am Rande der Städte und auf dem Land wird sehr wahrscheinlich weiter steigen. Unsere Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass ein direkterer Zugang zu Natur die Menschen in den Städten halten könnte. Grüne Freiräume sollten beim Bau von Wohnungen und der Pflege bestehender Quartiere also gleichberechtigt mitgeplant werden. Nur so entstehen lebenswerte und klimaangepasste Städte.
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Tetiana Dovbishchuk ist Soziologin und forscht am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) der Universität Hamburg zu nachhaltigen Lebensstilen.
Zur Veröffentlichung: Kley, S.; Dovbishchuk, T. How a Lack of Green in the Residential Environment Lowers the Life Satisfaction of City Dwellers and Increases Their Willingness to Relocate. Sustainability 2021, 13, 3984. https://doi.org/10.3390/su13073984
Zum Forschungsbereich "Wohnen im Grünen"
Gastbeitrag: Dieser Artikel ist zuerst im Hamburger Abendblatt im Rahmen unserer monatlichen Serie zur Klimaforschung erschienen. Alle Artikel der Serie.