Ein realistischeres Bild der Fischbestände in Europa
3. Mai 2022, von Fintan Burke
Foto: UHH/V.Köpsel
Der europäische Fischereisektor stützt sich auf viele biologische Annahmen über die derzeitigen Methoden zur Bewertung der Fischbestände. Das PANDORA-Projekt hat ein neues Online-Tool entwickelt, das Bewertungen und Prognosen für 30 Fischarten in Europas Gewässern enthält und die neuesten biologischen Erkenntnisse berücksichtigt. Das neue Tool wird in Kürze auf der Website des Internationalen Rats für Meeresforschung (ICES) verfügbar sein.
Das Wachstum des europäischen Fischereisektors ist gefährdet, weil Überfischung und Klimawandel die Vermehrung und das räumliche Verbreitungsgebiet wichtiger Fischbestände verändern. Ohne neue Erkenntnisse über Fischbiologie und Umweltbedingungen ist es für die europäische Fischereiindustrie schwierig, nachhaltig und wirtschaftlich verantwortlich zu fischen.
Mithilfe neuer biologischer und ökologischer Daten konnten Forscherinnen und Forscher des PANDORA-Projekts die Referenzpunkte für die Fischerei überarbeiten, indem sie die Bewertungsmodelle realistischer gestalteten. Gemeinsam mit dem Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) arbeitete das Institut für Marine Ökosystem- und Fischereiwissenschaften (IMF) der Universität Hamburg daran, unterschiedliche Interessengruppen im Rahmen von PANDORA zusammenzubringen und das Nordsee-Atlantis-Modell sowie seine Integration in das ökosystembasierte Fischereimanagement weiterzuentwickeln.
Das Hauptergebnis ist die „PANDORA´s Box of Tools“, die neue Bewertungsmodelle und Bestandsprognosen für 30 europäische Fischbestände liefert. Das Tool nutzt beispielsweise Daten über Umweltfaktoren wie veränderte Temperaturen, Meeresströmungen und Planktonproduktion. Diese Faktoren können sich auf einige Fischarten stärker auswirken als auf andere – die derzeitigen Bestandsbewertungen gehen allerdings von einer jahrzehntelangen Stabilität aus.
Entscheidend ist, dass diese Daten von Forscher:innen und von kommerziellen Fischern gesammelt wurden. „Der Ozean ist groß und die Menge an Daten, die wir durch herkömmliche Datenerfassung erhalten können, ist wirklich begrenzt", sagte Projektkoordinator Stefan Neuenfeldt, ein leitender Forscher am National Institute of Aquatic Resources in Dänemark. „Wenn wir nicht mit den Menschen zusammenarbeiten, die jeden Tag auf dem Meer sind, haben wir nicht die geringste Chance zu verstehen, was dort vor sich geht – egal, was passiert. Und das gilt nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für Entscheidungsträger", sagte er.
Im PANDORA-Projekt arbeiten 25 Institutionen (Universitäten, Labore, Industrie und Beratungsstellen) aus neun Ländern seit Mai 2018 zusammen. Das Projekt schließt seine Forschung im April 2022 ab.
Die Toolbox ist eine Mischung aus bestehenden Daten und Instrumenten zur Bewertung der Fischbestände und neu entwickelten Online-Tools. Das Instrument wird Fischern, Forschenden und der Öffentlichkeit auf der Website des ICES, der ältesten zwischenstaatlichen Wissenschaftsorganisation der Welt, zur Verfügung gestellt.
„ICES hat das offizielle Mandat der Europäischen Union, Empfehlungen zu Fangoptionen sowie Ökosystem- und Fischereiübersichten zu erstellen. Die Toolbox auf dieser Website bereitzustellen, ist der beste Weg, sie für alle sichtbar zu machen, die sich mit Fischbewertung und Ökosystemmanagement in Europa befassen“, sagte Neuenfeldt. Das Tool umfasst auch Apps, die diese Modelle vereinfachen, damit auch Personen, die nicht in der Industrie oder in der Wissenschaft arbeiten, die Auswirkungen der Fischerei und der Umweltveränderungen auf unsere Fischbestände verstehen können.
Modellierung und Management
Das Projekt bestand aus zwei Teilen: einem Forschungsteil und einem Teil zur Bewertung bestehender wirtschaftlicher Strategien im Bereich Fischerei. Im Forschungsteil wurden Laborexperimente, Probenahmen durch die Industrie und genetische Daten verwendet, um ein besseres Bild der aktuellen und künftigen Bestandsentwicklung und der räumlichen Verteilung von 30 Fischarten zu erhalten. Die mit und von den Fischern gesammelten Daten bedeuten, dass den Forschern viel mehr Informationen zur Verfügung stehen, um die Fischbestände zu bewerten und vorhersagen zu können. Das Endergebnis sind genauere Informationen sowohl für die Forscher als auch für die Fischereiwirtschaft.
Der Dialog zwischen Ökologen, Ökonomen und der Industrie bei dem Probenahmen, Forschung, Modellierung und Bewertung von Strategien gemeinsam durchgeführt werden, erwies sich als erfolgriech. So konnte beispielsweise ein Programm zur Datensammlung für die schottische Hochsee-Flotte von ursprünglich sieben Schiffen auf alle 22 Schiffe der Flotte ausgeweitet werden.
Neben dem Sammeln neuer Daten will das Projekt auch Ratschläge geben, wie die langfristige Rentabilität der europäischen Fischerei stabilisiert werden kann. Im Rahmen der Bewertung der wirtschaftlichen Fischereistrategien werden diese neuen biologischen Daten genutzt, um die Fischbestände in den europäischen Meeren zu verbessern. So sind beispielsweise im Mittelmeer die Bestände vieler kommerziell genutzter Arten bedroht, weil die meisten Tiere aufgrund der Selektion in der Fischerei gleich groß und gleich alt sind. Indem man diese Arten in Bezug auf Alter und Größe wieder vielfältiger werden lässt, können die artenübergreifenden Bestände wiederaufgebaut werden.
Die europäische Fischereiindustrie
Die EU ist der fünftgrößte Fischerei- und Aquakulturproduzent der Welt, mit einem Anteil von etwa 3,3 Prozent an der weltweiten Fischerei- und Aquakulturproduktion. 80 Prozent dieser Produktion stammen aus der Fischerei, 20 Prozent aus der Aquakultur.
Die Fischereiindustrie in der EU beschäftigte im Jahr 2019 rund 160.000 Menschen. Eine Studie von 2016 hat gezeigt, dass die Wiederauffüllung der Fischereibestände des Kontinents rund 92.000 Arbeitsplätze schaffen und das Bruttoinlandsprodukt der EU um 4,9 Milliarden Euro pro Jahr steigern könnte.
Die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) der EU versprach, die Überfischung aller Bestände bis 2020 zu beenden – doch dieses Ziel wurde verfehlt. Ein Bericht der Europäischen Umweltagentur für 2020 zeigt, dass im Nordostatlantik und in der Ostsee Fortschritte zu verzeichnen sind, das Mittelmeer und das Schwarze Meer jedoch weiterhin stark überfischt sind. Mit den neu generierten biologischen Daten und Möglichkeiten der Berechnung von Fischbeständen trägt PANDORA substantiell dazu bei, dass Akteurinnen und Akteure besser abschätzen und planen können, wie die marinen Ressourcen in unseren Meeren bestmöglich genutzt und auf lange Sicht geschützt werden können.
Mehr Informationen
Kontakt
Dr. Vera Köpsel
Communications, PANDORA project
vera.koepsel"AT"uni-hamburg.de
Dr. Stefan Neuenfeldt
DTU Aqua, National Institute of Aquatic Resources
Kemitorvet 2800, Lyngby Denmark