Klimaschutz für den FriedenDer Ukraine-Krieg und die planetaren Grenzen
13. April 2022, von Prof Dr Jürgen Scheffran
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Selten waren Jahrestage so brandaktuell. Am 2. März jährte sich zum 50. Mal die Vorstellung des Berichts an den Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972. Mit damals noch einfachen Modellen und raumfüllenden Computern wurden die zukünftigen Folgen des Wachstums der Menschheit simuliert. In einigen Szenarien kam es zu einem Zusammenbruch von natürlichen Ressourcen, Weltwirtschaft und Weltbevölkerung, in anderen konnte dies durch Begrenzung des Wachstums und technische Lösungen für Umweltschutz und effizientere Ressourcennutzung vermieden werden.
15 Jahre später formulierte die Brundtland-Kommission Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung. Unmittelbar nachdem Michail Gorbatschow (der am 2. März dieses Jahres seinen 91. Geburtstag feierte) mit neuem Denken das Ende des Kalten Krieges eingeläutet hatte, hofften viele auf eine Friedensdividende, die auch dem Umweltschutz zugute kommen würde. Vor 30 Jahren wiederum wurden auf der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 Abkommen für den Schutz des Klimas, der Artenvielfalt und der Wüsten vereinbart, und die Agenda 21 formulierte Leitlinien für nachhaltige Entwicklung. Damals noch ausgeblendet wurde die Friedensfrage, entgegen der Absicht der UN-Abrüstungsabteilung, die für Rio einen Bericht zur Umwidmung militärischer Ressourcen für den Umweltschutz ausgearbeitet hatte.1 Immerhin wurde eine Reihe von Konferenzen zur Rüstungskonversion in Dortmund, Moskau und Hongkong in Gang gesetzt.
Obwohl seitdem die Umweltdebatte auf der Tagesordnung steht, ist es bisher nicht gelungen, die Expansion der Menschheit in der vollen Welt des Anthropozäns nachhaltig in den natürlichen Rahmen einzubetten. So stößt die „große Beschleunigung“ menschlicher Entwicklung auf planetare Grenzen, was zu Widerständen und Kosten, Risiken und Instabilitäten, Spannungen und Krisen führt. Wie das Erreichen von Wachstumsgrenzen konkret aussehen könnte, war 1972 noch nicht absehbar; in den Modellen kamen weder der Klimawandel vor noch Gewaltkonflikte. Für beide lieferte der Jahresanfang 2022 erschreckendes Anschauungsmaterial.
Wie dramatisch die Folgen des Klimawandels werden können, zeigte am 28. Februar 2022 der Weltklimarat (IPCC) mit dem zweiten Teil sechsten Sachstandsberichts. Der Bericht ließ keinen Zweifel daran, was die ungebremste Aufheizung unseres Planeten bedeutet: „Die Folgen und Risiken des Klimawandels werden immer komplexer und schwieriger zu bewältigen. Vielfältige Klimagefahren werden gleichzeitig auftreten, und vielfältige klimatische und nicht-klimatische Risiken werden wechselwirken, was zu zusammengesetzten Gesamtrisiken und Risikokaskaden über Sektoren und Regionen hinweg führt.“2
Wenn die mittlere globale Temperatur gegenüber dem vor-industriellen Niveau über die im Pariser Klimavertrag vereinbarte Marke von 1,5 Grad ansteigt – was vermutlich im nächsten Jahrzehnt passieren wird –, würden Kipppunkte und Dominoeffekte im Klimasystem wahrscheinlicher. Ohne gemeinsame und rasche globale Maßnahmen werde sich das Zeitfenster für eine lebenswerte Zukunft schnell schließen. Die Hälfte der Menschheit sei gefährdet, die entfesselte Gewalt der Natur ist vielfach erkennbar, von den Überschwemmungen in der Eifel und den Waldbränden im Mittelmeerraum 2021 bis zu den Fluten in Australien in diesem Jahr.
In Zukunft dürften auch jene Teile der Menschheit im globalen Norden, die am meisten zu den Emissionen beigetragen haben und am besten geschützt sind, von den Folgen der beschleunigten Erwärmung nicht verschont bleiben, ob nun direkt durch Hitzewellen, Megafluten und Infektionskrankheiten oder indirekt durch klima-induzierte Wirtschaftskrisen, Gewaltkonflikte und Flüchtlingsbewegungen. Trotz aller wissenschaftlichen Warnungen ist eine weltweite Trendumkehr zur Stabilisierung des Klimas bislang nicht in Sicht. Dabei gibt es praktisch keine Alternative zur Halbierung der klimaschädlichen Emissionen bis 2030 und der Klimaneutralität bis 2050, um die klimapolitischen Sicherheitslimits einhalten zu können.3
Doch kann mit den beim jüngsten Klimagipfel in Glasgow 2021 vorgelegten nationalen Selbstverpflichtungen aller Staaten bestenfalls eine Begrenzung der Erderwärmung auf 2,1 Grad erreicht werden. Weltweit werden für das Erreichen der Klimaziele jährlich hunderte Milliarden Euro an Investitionen eingesetzt. Die Industrieländer hatten sich bereits 2009 das Ziel gesetzt, ab 2020 jährlich 100 Mrd. US-Dollar aus öffentlichen und privaten Quellen für Klimaschutz und Anpassung in Entwicklungsländern zu mobilisieren – halten ihre Zusagen bislang aber nur teilweise ein.
Der deutsche Beitrag zur internationalen Klimafinanzierung lag 2020 bei 5,1 Mrd. Euro, doch das Klimapaket der letzten Bundesregierung unter Angela Merkel blieb deutlich hinter den Erfordernissen zurück. Auch vom Corona-Konjunkturprogramm für die Erholung der Wirtschaft nach der Pandemie wurden bislang erst wenige Prozent der verfügbaren Mittel für Klimaschutz verwendet. Statt durch „grünes“ Wachstum aus der Krise zu kommen, wurden eher die alten Strukturen gestützt. Sanken aufgrund des Lockdowns die Emissionen 2020 um rund sieben Prozent, sind sie nun praktisch wieder auf dem alten Niveau. Die Chancen wurden nicht genutzt, wertvolle Zeit ging verloren.
Fossil-nukleare Risiken im Ukraine-Krieg
In dieser kritischen Lage für die Zukunft des Planeten wird die Welt Zeugin eines Krieges, der die Koordinaten der internationalen Politik in Richtung offener Konfrontation verschiebt und enorme Mittel bindet, die somit für kooperative Lösungen des Klimawandels und anderer globaler Probleme nicht zur Verfügung stehen. Die Vorstellung des Klimaberichts ging fast unter im Kriegsgetöse des russischen Angriffs auf die Ukraine, ebenso die Brandrede von UN-Generalsekretär António Guterres, der die Versäumnisse beim Kampf gegen den Klimawandel als „kriminell“ anprangerte.
Das Diktat der gegenwärtigen Katastrophe lässt die zukünftige verblassen. Das Hier und Heute beansprucht die öffentliche Aufmerksamkeit und schränkt durch einen permanenten Krisenmodus die Spielräume politischen Handelns zur globalen Zukunftsgestaltung ein. Wieder einmal zeigt sich, dass die präventive Vermeidung von Katastrophen und Konflikten günstiger ist als ihre nachträgliche Bekämpfung.
Dies trifft auch die neue Bundesregierung, die mit dem Primat der Klimapolitik angetreten ist und dem Primat der Kriegseskalation unterworfen wurde. Unversehens konvertierte Bundeskanzler Olaf Scholz zum Kriegskanzler und stellte am 27. Februar im Bundestag für eine „Zeitenwende“ 100 Mrd. Euro Sondervermögen für die Bundeswehr bereit, ganz im Sinne der Bazooka-Politik in der Corona-Pandemie. Kurz darauf wollten sich auch Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht lumpen lassen und einigten sich Anfang März darauf, bis 2026 rund 200 Mrd. Euro in den Klimaschutz zu investieren, auch um von russischen Öl- und Gasimporten unabhängiger werden, gerade angesichts des Krieges in der Ukraine.4
Beide Entscheidungen hängen zusammen, denn sowohl der Ukraine-Krieg als auch die Klimakrise sind in vielfacher Weise mit den Problemen des fossil-nuklearen Zeitalters verbunden. Dieses war schon lange gekennzeichnet durch Krisen und Konflikte um Kohle, Öl, Erdgas und Kernenergie. In vielerlei Hinsicht treibt die Invasion der Ukraine diese Krisen auf die Spitze und rückt die Klima- und Energiepolitik in den Blickpunkt des Kriegsgeschehens. Denn der Krieg zeigt die Schwächen dieser Politik ebenso auf wie er ihre Dringlichkeit unterstreicht, zugleich aber untergräbt er nachhaltige Lösungen durch Umwidmung von Finanzmitteln und Ressourcen, Verschiebung der öffentlichen Aufmerksamkeit, Destabilisierung von Märkten, Beeinträchtigung von Kooperation, geopolitische Konflikte, Zerstörung von Natur und Gesellschaft durch Rüstung und Krieg.
Der Krieg zeigt in dramatischer Weise frühere Fehler und Versäumnisse auf, die zur aktuellen Energiekrise geführt haben. Dazu beigetragen haben hunderte von Milliarden Euro an Subventionen für fossile Brennstoffe, die die Abhängigkeit verstärkt und den Übergang in eine klimaschonende Zukunft gebremst haben. Das fossil-nukleare Energiesystem hat immer wieder gesellschaftliche und internationale Konflikte provoziert.
Auch im 21. Jahrhundert sind Kohle, Öl, Erdgas und Kernenergie ein Motor für die Verflechtung von Wachstum, Macht und Gewalt, aber auch für Kooperation und gegenseitige Abhängigkeiten. Die Nordstream-Pipelines zwischen Russland und Deutschland stehen für diese Ambivalenz der Energieinfrastruktur, die in Friedenszeiten als Handelsprojekt und Schmiermittel der Volkswirtschaft dient, in Kriegszeiten jedoch zum Kampfmittel und Konfliktziel wird, gar zum Treibstoff und Finanzinstrument für die Kriegsmaschinerie.
Dies trifft gerade auch Deutschlands Energieversorgung, die in erheblichem Maße von den fossilen Energiequellen Russlands abhängt, bei Steinkohle zu rund 50 Prozent, bei Öl zu 35 Prozent und bei Erdgas zu 55 Prozent. Von den Ausgaben, die Deutschland pro Jahr für fossile Energien zahlt, fließt ein erheblicher Anteil auch in Russlands Militärausgaben, die sich mit den Einnahmen aus dem Rohölexport etwa die Waage halten.5
Russland als weltweit drittgrößten Ölproduzenten zu ersetzen, stellt die Energieversorgung vor große Herausforderungen. Schon vor Kriegsbeginn waren die Preise von Öl und Gas hoch, da die Industriestaaten nach dem Corona-Einbruch weltweit ihre Wirtschaft hochfuhren und große Mengen an fossiler Energie nachgefragt wurden. Wegen der Sorge vor den Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die weltweite Versorgung stiegen die Energiepreise ungebremst weiter und erreichten immer neue Höchststände, genährt durch die Sanktionen und den Rückzug von Ölkonzernen aus dem Russland-Geschäft, aber auch durch Spekulationen auf eine erwartete Verknappung.
Hektisch wurden Maßnahmen diskutiert, um die Abhängigkeit von Russland zu beenden: die Aktivierung von Öl- und Gasreserven, Speicher mit Flüssiggas aus USA und Katar, Importe aus den bislang sanktionierten Ländern Venezuela und Iran. Zur Stabilisierung gab die Internationale Energieagentur (IEA) Anfang März 60 Mio. Barrel Rohöl frei, die Hälfte davon aus den USA. Dies sind vier Prozent der Ölreserven der 31 IEA-Länder (inklusive Russland), mit denen ein Ausfall der russischen Öllieferungen für ungefähr 13 Tage abgedeckt und der Preisanstieg kurzfristig abgefedert werden kann.
Anfang März war erst ein kleiner Teil der russischen Öl- und Gasexporte von Sanktionen betroffen, auch weil sich einige Länder nicht am Boykott beteiligen. Vor diesem Hintergrund wurde in Deutschland ein vollständiger Einfuhrstopp fossiler Energie aus Russland zum Streitfall. Anders als die USA, die nur in geringem Umfang von russischen Öl- und Gaslieferungen abhängen, argumentierten Bundesregierung und Wirtschaft, diese Sanktion könne wegen der hohen Abhängigkeit der Energieversorgung Europas derzeit nicht verhängt werden. Es drohe eine Destabilisierung durch den Zusammenbruch der Energieversorgung, verbunden mit einer Preisexplosion, Versorgungschaos und sozialen Verwerfungen.
Demgegenüber kommen wissenschaftliche Studien zu dem Ergebnis, die deutsche Wirtschaft könne ein Energieembargo verkraften, während es die russische Wirtschaft hart treffe.6 Zeitweilig wurde hierzulande sogar erwogen, den Ausstieg aus der Kernenergie durch Laufzeitverlängerungen der deutschen Atomkraftwerke zu verschieben. Die Debatte darüber verflog jedoch mit den russischen Angriffen auf die Nuklearanlagen in Tschernobyl und andere AKWs in der Ukraine, wodurch das militärische Katastrophenpotential der Kernenergie in den Blickpunkt rückte.
Hinzu kam der unbelegte Vorwurf Russlands gegenüber der Ukraine, Nuklearmaterial für militärische Zwecke abzuzweigen sowie die unverhohlene Drohung Putins mit einem Atomwaffeneinsatz, der über den Nuklearen Winter die Gefahr einer Destabilisierung des Weltklimas und der Auslöschung der Menschheit in sich birgt.
Sicherheitsrisiken des Klimawandels und militärische Klimafolgen
Die langfristig wohl größten Sicherheitsrisiken und Konfliktpotentiale durch fossile Energien ergeben sich aus der Verflechtung der Klimakrise mit Rüstung und Militarisierung, die ihre Bewältigung erschweren. Während die Wissenschaft noch über die Konfliktrelevanz von Klimawandel oder Ressourcenknappheit diskutiert, werden die Folgen der Erderwärmung längst in geopolitische Strategien eingebunden.
Wenn weltweit Ökosysteme und lebenswichtige Ressourcen wie Wasser und Ozeane, Ackerland und Boden, Wälder und Artenvielfalt verlorengehen oder Wetterextreme die Lebensgrundlagen gefährden, stehen auch die menschliche Sicherheit und die gesellschaftliche Stabilität auf dem Spiel. Die Unsicherheiten durch Klimawandel sind regional unterschiedlich und verbinden sich mit anderen Stressfaktoren wie Armut, Hunger, Verfolgung, Gewalt und Flucht.
Dies zeigt sich in den Brennpunkten des Klimawandels wie im Mittelmeerraum und in der Sahelzone Afrikas, in großen Teilen Asiens und Lateinamerikas, aber früher oder später auch in Europa und Nordamerika, wenn deren Anpassungsfähigkeit ausgeschöpft ist. Ein Sonderfall ist die stark betroffene Arktis, in der durch die Erwärmung Konflikte um neue Zugänge zu fossilen Ressourcen, Landflächen und Transportrouten zwischen Nordamerika, Nordeuropa, Russland und China entstehen.
Da kooperative Lösungen möglich sind, ist eine Gewalteskalation kein Automatismus, das hängt aber vom globalpolitischen Umfeld ab. Wie der Arabische Frühling zeigt, können Wetterextreme und Ernteeinbußen in verschiedenen Teilen der Erde zusammen mit regionalen Missständen globale Verwerfungen mit sich bringen. Deutlich sichtbar wurde das am Syrienkonflikt, der über Terrorismus und die große Fluchtbewegung auch die europäische Stabilität beeinflusste.
Alle Versuche, die Sicherheitsrisiken des Klimawandels im UN-Sicherheitsrat zu thematisieren, scheiterten bislang an Russland, China und anderen G77-Staaten. Mit fortschreitender Klimakrise besteht die Gefahr einer Militarisierung der Klimapolitik. So sehen militärische Einrichtungen wie das Pentagon im Klimawandel einen Bedrohungs-Multiplikator, der die nationale und internationale Sicherheit gefährdet, militärische Operationen erschwert – oder erst erforderlich macht, vom Katastrophenschutz über die Konfliktbewältigung bis zur Durchsetzung von Ressourceninteressen und Machtansprüchen in einer vom Klimachaos bestimmten Welt.
Dies könnte eine Abwärtsspirale von Klimarisiken und Konfliktrisiken auslösen. Militär und Rüstung sind nicht nur für Menschen gefährlich, sondern auch für die Natur. Oft genug wurde die Umwelt Opfer einer Kriegsführung der verbrannten Erde oder für kriegerische Zwecke manipuliert und eingesetzt, bis hin zu Ökoziden.7 Bewaffnete Konflikte verbrauchen und belasten natürliche Ressourcen (Luft, Wasser, Boden, Land, Wälder und Ozeane), schädigen damit verbundene Infrastrukturen und Dienstleistungen (Energie, Nahrung, Gesundheit, Abwasser, Müllabfuhr) und haben negative Auswirkungen auf den Erhalt von Ökosystemen.
Große Landstriche wurden verwüstet durch den Giftgaskrieg des Ersten Weltkrieges, die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und vielfältige Umweltbelastungen des Kalten Krieges, vom großflächigen Einsatz von Herbiziden wie Agent Orange durch die USA im Vietnamkrieg bis zum nuklearen Wettrüsten.
Allein die Beseitigung der gefährlichen Hinterlassenschaften kostet bis heute hunderte Milliarden Dollar. Hohe Militärausgaben gehen auf Kosten von Umweltschutz und nachhaltiger Ressourcennutzung, der Bewahrung der Biodiversität und der Verringerung von Schadstoffen. Der Golfkrieg von 1991 brachte Umweltschäden durch die Ölbrände in Kuwait und die Freisetzung von Öl im Persischen Golf. In einer engeren und volleren Welt wird die hohe Ressourcenintensität und Umweltbelastung durch Aufrüstung, Krieg und Militär zum existenziellen Problem.
Armeen gehören zu den größten Verbrauchern von Energie und anderen Ressourcen und setzen erhebliche Umweltschadstoffe frei.8 Treibstoffe und giftige Chemikalien aus militärischen Aktivitäten können lange in der Umwelt bleiben. Zudem finanzieren sich bewaffnete Konflikte über die Ausbeutung wertvoller Ressourcen, von Wäldern bis zu Rohstoffen. Militärische Interventionen oder Stationierungen wiederum dienen oftmals der Sicherung der Öl- und Energieversorgung, von Tankerrouten bis zu Pipelines. Wären die US-Streitkräfte ein Nationalstaat, rangierten sie unter den 50 größten Emittenten von Treibhausgasen.
Noch offen ist, wie stark der Krieg in der Ukraine die Umwelt belasten wird, etwa durch chemische und radioaktive Stoffe oder die Überschwemmung von Gebieten. Schon jetzt lässt sich sagen, dass in diesem wie auch in anderen Gewaltkonflikten große Mengen fossiler Brennstoffe und Treibhausgase freigesetzt werden, durch den Betrieb militärischer Systeme, die Aufrüstung vor und nach dem Krieg und die Zerstörung der Infrastruktur, die wieder aufgebaut werden muss.
Zeitenwende für Aufrüstung und Unsicherheit?
Die schwerwiegendsten Folgen des Ukraine-Krieges für Umwelt- und Klimaschutz dürften in dem Aufrüstungskurs liegen, der die Welt in schwierigen Zeiten trifft. Hierzu gehören neben der Klima- und Umweltkrise ein Höchststand von Gewaltkonflikten seit 1945 und eine Verdopplung der Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen im vergangenen Jahrzehnt. Die Militärausgaben waren schon vor dem Krieg weltweit stark gestiegen und lagen 2020 mit rund zwei Billionen Dollar fast doppelt so hoch wie der niedrigste Wert nach Ende des Kalten Krieges.
Bei weitem den größten Anteil hatten die Nato-Staaten, die vor dem Krieg rund 16 Mal so viel für Rüstung ausgaben wie Russland. Nachdem Deutschland seinen Militäretat in den vergangenen Jahren bereits um fast die Hälfte auf knapp 50 Milliarden Euro erhöht hatte, wird nun zusätzlich die doppelte Summe bereitgestellt. Auch bei einer Verteilung auf mehrere Jahre könnte das Zwei-Prozent-Ziel der Nato damit überschritten werden.
Doch konnten diese Zuwächse vor dem Ukraine-Krieg weder Sicherheit garantieren noch Putins Angriff verhindern, vielleicht haben sie diesen eher noch angestachelt. Fraglich ist, ob die zuvor schon anvisierte Zeitenwende9 zur Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen für die planetare Sicherheit taugt oder vielmehr Bedrohungsspiralen multipliziert. Im zweiten Fall dürften geopolitische Konflikte und Strategien zur Rechtfertigung von gewaltsamer Expansion dominieren, ganz im Sinne des früheren US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski, der 1997 den eurasischen Raum zum Schachbrett für westliche Machtprojektionen erklärt hatte.10
Jedenfalls hat dieser Krieg jetzt schon die schlimmsten Szenarien übertroffen: zerstörte Städte mit zahlreichen Toten und Verwundeten, Millionen Flüchtlinge, Vorwürfe von Genozid, Angriffe auf Nuklearanlagen, Eskalationsspiralen an der Schwelle zum Weltkrieg oder gar Atomkrieg, ein Wirtschaftskrieg unter Einsatz härtesteter Sanktionen, ein rasanter Anstieg von Lebensmittel- und Energiepreisen wie auch von Rüstungsausgaben. Ausfälle in Lieferketten, Energieversorgung und Nahrungsmittelproduktion treffen eine durch die Corona-Pandemie gebeutelte und von der Inflation geschwächte Weltwirtschaft, worunter die verwundbarsten Schichten am stärksten leiden.
So wird der Ukraine-Krieg zum Multiplikator einer Mehrfachkrise, in der die Konfliktakteure schlafwandlerisch Öl ins Feuer gießen und die Eskalation vorantreiben, mit unabsehbaren Kipppunkten, Risikokaskaden und Kettenreaktionen: Die Lage erinnert an die Umbrüche vor hundert Jahren, mit Erstem Weltkrieg, Spanischer Grippe, Weltwirtschaftskrise und Faschismus, der zum Zweiten Weltkrieg führte. Wir erleben eine Welt im Umbruch, in der sich entscheidet, ob das alte System des fossilen Kapitalismus die Welt in eine Katastrophe stürzt oder ob sich intelligentere Alternativen durchsetzen. Allerdings könnte das globale System durch Verstärkereffekte auch in eine positive Richtung kippen und Transformationsprozesse anstoßen, Widerstandskräfte gegen Krisen stärken und eine nachhaltige Transformation ermöglichen.11
Zeitenwende für Klimaschutz und nachhaltigen Frieden!
Der Ukraine-Krieg und die Klimakrise bestätigen einmal mehr die Konfliktträchtigkeit fossil-nuklearer Energieträger. Daher wächst die Dringlichkeit, sie durch eine Energiewende zu ersetzen. Es ergibt also wenig Sinn, die aktuelle Bewältigung der Kriegsfolgen auszuspielen gegen die langfristige Bewältigung der Klimakrise. Um Frieden und Klimaschutz zu erreichen, müssen die bekannten strukturellen Maßnahmen einer sozial-ökologischen Transformation konsequent umgesetzt werden.
Hierzu gehören die Energie-, Agrar- und Verkehrswende, mit Energieeinsparung und Effizienzverbesserung, erneuerbaren Energiequellen und Dekarbonisierung, Strom und Wasserstoff als Energieträgern, einer Kreislaufwirtschaft sowie naturnahen Lösungen. Entsprechend forderten Prominente in einem offenen Brief Anfang März von der Bundesregierung, nicht nur ein Embargo auf fossile Brennstoffe aus Russland zu verhängen und einkommensschwache Haushalte vor den möglichen Folgen zu schützen, sondern zugleich auch konsequent auf Erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Verkehrswende zu setzen.12
Ob Deutschland nun möglichst schnell „Freiheitsenergien“ braucht, wie Finanzminister Christian Lindner meint, oder mehr „Friedensenergien“ mag eine rhetorische Frage sein, solange beide kompatibel sind. Jedenfalls sollte die Transformation nicht unter dem Krieg leiden, sondern so beschleunigt werden, dass sie die Wende wirksam und schnell umsetzt, nachhaltige Energiesicherheit schafft und zur dauerhaften Friedenssicherung beiträgt.
Dies braucht Produktionskapazitäten, Materialien, Rohstoffe und Fachkräfte, deren Bereitstellung Zeit kostet. Damit Deutschland wieder zum Vorreiter der Energiewende werden kann, ist eine Kraftanstrengung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft erforderlich. Wichtig ist dabei, Energiekonflikte ebenso zu vermeiden wie riskante Abhängigkeiten von strategischen Rohstoffen und Konfliktmineralien. Das wäre die richtige Antwort auf die Warnungen des Weltklimarats wie auf den Ukraine-Krieg, dessen Schockwirkungen zum Turbo für die überfällige Wende werden könnten. Statt einer „Zeitenwende“ für Rüstung und Krieg braucht Europa eine Zeitenwende für nachhaltigen Klimaschutz und eine friedliche Energiewende innerhalb planetarer Grenzen.
Zum Text
Dieser Text ist zuerst in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ erschienen.
Prof. Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Klimawandel und Sicherheit am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit CEN. Im Exzellenzcluster CLICCS der Universität forscht er im Bereich Konflikt und Kooperation an der Schnittstelle von Klima und Sicherheit.
Referenzen
1 Vgl. Jürgen Scheffran, Panzer gegen die ökologische Krise?, in: „Spektrum der Wissenschaft“, 10/1992, S. 128-132.
2 Sechster IPCC-Sachstandsbericht (AR6) Beitrag von Arbeitsgruppe II: Folgen, Anpassung und Verwundbarkeit. Hauptaussagen aus der Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung (SPM), S. 2.
3 Vgl. Joachim Müller-Jung und Timo Steppat, IPCC-Klimabericht: Staaten unternehmen viel zu wenig bei Klimaanpassung, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 28.2.2022; Joachim Wille, Klimareport: „Das Zeitfenster schließt sich“, in: „Frankfurter Rundschau“, 28.2.202
4 Vgl. Bundesregierung will 200 Milliarden Euro in Klimaschutz investieren, in: „Die Zeit“, 6.3.2022
5 Vgl. Stefan Schultz, Mögliches Embargo gegen Russland: Gasmangel würde deutsche Wirtschaft um bis zu drei Prozent schrumpfen, in: „Der Spiegel“, 10.3.2022
6 Vgl. Rüdiger Bachmann u.a., Was wäre, wenn…? Die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Importstopps russischer Energie auf Deutschland. ECONtribute, Policy Brief No. 029; Embargo im Energiesektor träfe Russland hart – Deutschland aber kaum, in: „Der Tagesspiegel“, 23.2.20
7 Vgl. Jürgen Scheffran, Verbrannte Erde – Militär als Verursacher von Umweltschäden und Klimawandel, in: „Friedensforum“, 1/2019, S. 32-44; Jürgen Scheffran, Ökozid: Zwischen Klimaklagen und Verbrechen gegen den Frieden, in: „Wissenschaft & Frieden“, 1/2022; S. 38-40; Karl-Heinz Peil, Klimakiller Militär, Die Linke 2019.
8 Vgl. Bruce Stanley, Dreck am Stiefel: Die Umweltsünden der US-Armee, in: „Le Monde diplomatique“, 12/2021, S. 1.
9 Tobias Bunde, Zeitenwende / Wendezeiten. Sonderbericht Münchner Sicherheitskonferenz, 2020.
10 Vgl. Zbigniew Brzezinki, The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, New York 19
11 Vgl. Jürgen Scheffran, Mythen der etablierten Sicherheitspolitik: „Der Westen kann die Weltprobleme lösen“, in: „Die Friedenswarte“, 3-4/2021, S. 205-227; vgl. auch: Jürgen Scheffran, Kettenreaktion außer Kontrolle: Vernetzte Technik und das Klima der Komplexität, in: „Blätter“, 3/2016, S. 101-110.
12 Vgl. Simon Sales Prado, Offener Brief: „Wir alle finanzieren diesen Krieg“, in: „Süddeutsche Zeitung“, 9.3.2022